Der Umgang mit Nicht-Wissen – ein altes Thema, an das wir uns noch lange nicht gewöhnt haben
Nicht zu wissen, was als nächstes kommt.
Nicht konkret planen zu können, wie es weitergeht.
Schwierig einzuschätzen, was, wann, wie passiert.
Diese Situationen sind in den vergangenen zwei Jahren viel stärker Alltag geworden. Und bestätigen sich grade in trauriger Form durch den Krieg in der Ukraine.
Wir leben in „unsicheren“ Zeiten – unsere Welt ist wohl viel weniger „vorhersehbar“ als es manchmal scheint. Mit diesen Gedanken haben wir uns beschäftigt, weil wir mehr denn je sehen, dass der Umgang mit „Nicht-Wissen“ eine der Kernqualitäten dieser Zeit ist. In unsern Rollen als Facilitator, Führungskraft und vor allem auf dem Marktplatz des Lebens.
Einmal etwas nicht zu wissen, hat mit Sicherheit schon jede:r mal erlebt. Wenn wir zum Beispiel in eine neue, ungewisse Situation geraten, die wir noch nicht so richtig einschätzen können. Ein neuer Job, eine neue Stadt, oder auch ein Teammeeting, in dem es Momente gibt oder Herausforderungen auftreten, die wir so noch nicht hatten und auf die wir einfach keine Antwort haben.
So schwierig es sein mag, in solchen Situationen nicht zu wissen, was auf einen zukommt, so voller Chancen kann dieser Zustand auch sein. Wenn sich Menschen persönlich verändern oder innerlich wachsen, geht damit oft ein Moment des Nicht-Wissens einher. Wenn wir lernen, diese Momente auszuhalten, können sich Handlungsoptionen zeigen, die uns wirklich weiterbringen.
Weil uns das „Nicht-Wissen“ auch als FacilitatorInnen in Workshops und Transformationsprozessen beinahe täglich begegnet, geht es in diesem Text genau um diesen inneren Zustand und auch um die vielen Chancen, die sich daraus ergeben.
Der Zustand des Nicht-Wissens hat Kraft und kann Freude und Vor-Freude erzeugen. Aber auch Aufregung, Anspannung und manchmal sogar Enge, Panik oder blanke Angst. So kann er uns in rege Betriebsamkeit oder Bewegungslosigkeit versetzen – als Einzelne:r, als Paar, als Familie, als Team, als Dorf, als Firma und auch als Gesellschaft (was wir in den letzten zwei Jahren, aber auch in den letzten Wochen ganz intensiv gespürt haben bzw. sehen konnten).
Wie gehen wir mit Nicht-Wissen um?
Die Frage ist nun: Wie gehen wir damit um, wenn wir nicht wissen? Und in unserer Rolle als FacilitatorInnen bzw. VeränderungsbegleiterInnen vielleicht sogar Erwartungen seitens der Workshop-Teilnehmenden aufkommen, dass doch bitte wenigstens wir wissen sollten.
Darauf gibt es natürlich nicht die eine schnelle und pauschale Antwort. Die Dimensionen, die hier berührt werden, betreffen nicht nur unser Verhalten – was tue ich wann und wie und wie spreche ich darüber? Vielmehr betreffen sie unser Denken und Fühlen, aber auch unseren Anspruch, der Gruppe, mit der wir arbeiten, (schnell) helfen zu wollen. Manchmal ist es körperlich nur sehr schwer auszuhalten, mit diesem Zustand mitzugehen und damit achtsam zu arbeiten, statt einfach zügig einen vorläufigen Zustand von Sicherheit und scheinbarer Erkenntnis herbeizuführen.
Eben weil es keine schnelle Antwort auf die Frage nach dem Umgang gibt und weil die Frage alle Bereiche unseres Seins berührt, geben wir dem Umgang mit Nicht-Wissen in unserer Ausbildung „Sensing the Essence“ immer wieder sehr viel Raum. Raum, der uns zunächst einmal zu uns selbst führt und dabei wahrscheinlich so viele Facetten hat, wie das Leben selbst.
Wie innen, so außen
In der Facilitator-Ausbildung leitet uns folgende Hypothese: Wenn ich mich im persönlichen, inneren Raum des Nicht-Wissens (besser) kennengelernt habe, wenn ich weiß, wie leicht oder wie schwer es mir fällt, diesen Zustand auszuhalten und wenn ich auch die Möglichkeiten kennengelernt habe, die aus dem Nicht-Wissen entstehen können, dann kann ich mich besser darin bewegen und auch Gruppen durch solche wichtigen Phasen begleiten.
Bekanntes, Ungewohntes und die Chance des wirklich Neuen
Wir sehen das zum Beispiel über die Theory U, die im Retreat-Modul intensiv erfahren wird: Sobald Menschen ein Problem sehen oder eine Frage haben, gehen sie in eine Art „Downloading-Prozess“: Sie suchen in gewohnten Mustern nach schnellen Antworten. Das ist per se nicht verkehrt, gibt es doch Bereiche, in denen schnelles Erfahrungs-Wissen lebensnotwendig ist. Nehmen wir nur die Chirurgin in der Notaufnahme, die den Zustand des Nicht-Wissens idealerweise nicht so häufig erlebt. Wenn wir aber wirklich Neues erkunden wollen und beispielsweise mit Teams oder Organisationen echte Transformation ermöglichen möchten, dann lohnt es sich, darüber hinaus zu gehen. An innere Orte, in denen Achtsamkeit und Sein präsent sind. Wo es vielleicht nicht so ist, wie wir uns das gerade wünschen. Wo aber, wenn wir uns individuell oder als Gruppe diesem Zustand öffnen, wir aus ganz neuen Handlungs-Optionen wählen können, die nicht aus einem einstudierten Reiz-Reaktionsmuster gespeist werden.
Raum-Halten als Kernqualität
Dabei ist es überaus hilfreich zu wissen, was uns persönlich Halt gibt und uns stärkt. Und wie man für sich und die Gruppe einen sicheren Raum kreiert, in dem Nicht-Wissen leichter sein darf. Wenn wir dann noch im wahrnehmenden Kontakt zu unseren Gedanken und Gefühlen sind und diese (aus-)halten, kommen wir zu der Qualität, die wir als „Raum-Halten“ bezeichnen – aus unserer Sicht eine Kernqualität des Facilitators, die uns ermöglicht, mit Gruppen an den Kern ihres Themas zu gelangen, der vielleicht so ganz anders ist, als wir im Vorfeld vermutet hatten. Es ist dann ganz anders als es uns zuvor schien. Und wenn wir uns diesem Neuen öffnen, erleben wir oft ein alles verbindendes unsichtbares Band und helle Funken von Menschlichkeit. Das Nicht-Wissen verliert dann seine dunkle Seite und wir entdecken dessen Zauber. Gemeinsam.