Wie New Work mir das Geschenk einer einjährigen Auszeit/Sabbatical bescherte
Direkt aus Südafrika, berichtet Jörg von Kruse, Geschäftsführer von i+m Naturkosmetik, einem der nachhaltigsten Unternehmen Deutschlands, von seinem derzeitigen Sabbatical.
Er erzählt, wie ihm die (mit unserer Unterstützung eingeführte,) neue Wirtschaftsform “New Work” bei i+m, das ungewöhnliche Projekt einer einjährigen Auszeit als Unternehmer ermöglicht hat und welche äußeren und innerlichen Herausforderungen, dabei zu bewältigen waren (und immer noch sind) – sowohl auf Seiten der Mitarbeitenden als auch bei ihm als Unternehmer.
Von Jörg von Kruse
Um zu verstehen, wie dies zusammenhängt, muss ich etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen, versuche mich aber kurz zu halten: Mein Name ist Jörg von Kruse, ich bin Inhaber und Geschäftsführer der Firma i+m Naturkosmetik. Das Unternehmen wurde bereits vor 44 Jahren gegründet und gehört zu den Pionierunternehmen der deutschen Bio-Bewegung.
Nachdem i+m, unter anderem wegen seiner starken idealistischen Ausrichtung, vor 15 Jahren in die Krise geriet, wurde ich als anwaltlicher Berater hinzugezogen. Leider war eine Rettung nicht mehr möglich, und es gab schließlich nur noch die Alternative der Zerschlagung oder eines Neuanfangs mit mir. Da ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin vorhatte, ein nachhaltiges Unternehmen zu gründen, hängte ich meinen Beruf als Rechtsanwalt an den Nagel, übernahm i+m und baute das Unternehmen, gemeinsam mit anderen engagierten Menschen, wieder auf.
Vor fünf Jahren gab mir Gabriella von Kruse – die Namensähnlichkeit ist nicht zufällig, wir sind glücklich verheiratet – das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux zu lesen, und ich war sofort begeistert. Seit Jahren war ich überzeugt, dass es zu einer wirklichen Wende unserer Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit nicht nur ökologisch produzierter Produkte bedarf, sondern auch einer Veränderung der Organisationsstrukturen von Unternehmen – weg von den Prinzipien Misstrauen und Konkurrenz, hin zu Vertrauen und Verantwortung.
Genau hierfür schien mir „Reinventing Organizations“ die Blaupause zu liefern. Sofort starteten wir mit der Umsetzung. Ich bestellte für alle Mitarbeitende das Buch, gab allen zwei Tage Sonderurlaub, um sich mit dem Buch zu beschäftigen, und dann ging es los. Mit Unterstützung von Gabriella und später auch noch von Heiner hielten wir einige Workshops ab und begannen die Grundsätze von Purpose/Sinn, Ganzheitlichkeit und Selbstführung bei i+m umzusetzen. Den Prozess der letzten Jahre zu beschreiben, wäre eine spannende Geschichte, aber sie würde diesen Text sprengen. Daher beschränke ich mich auf ein paar Kernpunkte/Stichworte.
Der Prozess war von Euphorie, aber auch Schwierigkeiten getragen und ist noch lange nicht abgeschlossen. Doch sind wir alle bei i+m heute stolz auf das, was wir geschafft haben und können uns nicht mehr vorstellen, anders zu arbeiten. Wir haben gemeinsam eine Organisationstruktur geschaffen, in der traditionelle Hierarchien und Kontrollmechanismen abgeschafft und stattdessen die Prinzipien von Vertrauen, Verantwortung und Transparenz tief verankert wurden.
(Wir haben den Purpose gestärkt, indem wir den Fokus des Unternehmens noch mehr auf Nachhaltigkeit und Gemeinwohlökonomie ausgerichtet haben. I+m spendet z.B. mindestens 25 % seiner Gewinne. Dies waren in den letzten Jahren durchschnittlich 150.000 €.)
Schließlich haben wir alle in den letzten Jahren gelernt, uns als „Ganzes“ bei i+m einzubringen und hierfür die entsprechenden Räume/Formate geschaffen.
Nun komme ich zurück zum eigentlichen Inhalt dieses Textes. Vor zwei Jahren kam bei mir die Idee und das Bedürfnis auf, nach 15 Jahren Aufbauarbeit eine einjährige Pause einzulegen, um Abstand zu gewinnen, Dinge zu tun, die lange zu kurz kamen, und mich tiefer mit dem Thema Buddhismus und Spiritualität zu beschäftigen. Anfänglich schien mir eine so lange Abwesenheit in meiner Rolle als Unternehmer unmöglich und viele meiner UnternehmerkollegInnen haben mich vor diesem Schritt (bis heute) gewarnt. Aber ich war überzeugt, dass unsere Organisationsform dies eigentlich hergeben müsste. Außerdem wäre es ein guter Test für unser New Work Modell und zugleich eine Möglichkeit für alle im Team, an dieser Stelle weiter zu wachsen.
Als ich dem Team schließlich meine Idee eines einjährigen Sabbaticals kundtat, waren die Reaktionen anfänglich von Ablehnung und Sorgen geprägt. Doch nach einigen Gesprächen, in denen wir über die Sorgen und Ängste reflektiert und überlegt haben, wie wir diese ausräumen können, begann sich die Stimmung zu wandeln. Wir legten gemeinsam die Voraussetzungen und erforderlichen Maßnahmen fest, die für meine Auszeit erfüllt sein müssten:
Auf Seiten des Teams waren dies
- Selbstvertrauen, den „Laden ohne Chef zu schmeißen“.
- Mut und Freude an der Herausforderung bzw. über die Chance, persönlich und gemeinsam zu wachsen; mehr Verantwortung als Wachstumsraum zu verstehen.
- Festlegung, welche Entscheidungen, die bisher von mir getroffen wurden, auf wen übertragen werden und wann ich in der Abwesenheit einzubeziehen bin.
- Weitere Verbesserung der Fehlerkultur, bzw. Stärkung des Vertrauens, später nicht sanktioniert zu werden, wenn etwas schief geht, was ansonsten ich in meiner Rolle als Chef entschieden hätte.
- Vollständige Transparenz, d.h. die Mitarbeiter müssen Zugang zu allen Unternehmensdaten haben, um kompetente Entscheidungen treffen zu können.
- Weitere Verbesserung der Kommunikationskompetenzen und -strukturen, um als Team besser Entscheidungen treffen und Konflikte lösen zu können.
Aber damit war es nicht getan. Ich musste auch an mir arbeiten. Denn viele der vorgenannten Punkte waren nicht nur vom Team, sondern auch von mir, bzw. meiner Einstellung und meinem Verhalten abhängig. Es benötigte auf meiner Seite
- Vertrauen in die fachliche Fähigkeit und die Lernfähigkeit der Mitarbeiter.
- Vertrauen in die Ehrlichkeit der Mitarbeiter.
- Vertrauen in die persönliche Größe der Mitarbeiter, auch schwierige Situationen zu bewältigen und nicht in Panik zu geraten.
- Fähigkeit loszulassen bzw. den Kontrollverlust auszuhalten.
- Fähigkeit den Bedeutungsverlust bzw. den von mir empfundenen starken „Angriff“ auf mein Ego auszuhalten.
- Vertrauen, dass dieses Jahr der Auszeit, das auch eine Zeit der Ungewissheit und Neuorientierung sein würde, für mich überwiegend positive Erfahrungen bringen würde.
- Keine Angst vor der Rückkehr bzw. dem „Danach“ zu haben: Werde ich freundlich empfangen und werde ich noch gebraucht werden?
Meine „Hausaufgaben“ konnte ich nur teilweise durch intensive Wissensvermittlung an das Team erledigen. Der Großteil bestand aus innerer Arbeit. Das hieß für mich, die Einsichten zu vertiefen,
- dass alles ständig im Wandel und damit ohnehin nicht kontrollierbar ist,
- dass es im Prinzip nichts zu verlieren gibt (weil „mein und dein“ nur Vorstellungen eines an sich illusorischen Egos sind),
- dass es dem Organismus i+m nützt und ihn resilienter macht, wenn er lernt von mir unabhängig zu sein. Denn früher oder später werde ich ohnehin nicht mehr da sein,
- dass i+m nicht in erster Linie Teil von mir ist, sondern ich Teil des eigenständigen Organismus i+m bin, den es vor mir gab und wahrscheinlich auch nach mir geben wird,
- dass es immer „Jetzt“ ist und ich mich daher nicht vor möglichen Gefahren in der Zukunft bzw. in diesem Jahr ängstigen, sondern mich (erst) mit Gefahren beschäftigen muss, wenn sie konkret und gegenwärtig sind.
Die eigentliche Vorbereitung des Teams bzw. die Implementierung aller Maßnahmen dauerte ca. ein Jahr und war mit zusätzlicher Arbeit und Lernen für alle verbunden. In den letzten Wochen vor meiner Abreise hatte sich die Stimmung so gewandelt, dass ALLE im Team sich für mich freuten, aber auch über ihre Chance, in diesem Jahr noch mehr Verantwortung zu übernehmen und beruflich, sowie persönlich weiter wachsen zu können.
Meine innere Arbeit ist keineswegs abgeschlossen und ich werde mich sicher die ganze Auszeit (und mein ganzes Leben) weiter damit beschäftigen. Aber als Gabriella und ich Sylvester nach Südafrika aufbrachen – wo wir einen Teil unserer Auszeit verbringen werden – war ich voller Freude und Vertrauen, dass i+m dieses Jahr ohne mich gut auskommen wird und vor mir ein Jahr voller Freiheit und neuer Erlebnisse liegt.
(Anmerkung der Redaktion: Wir werden Jörg nochmals um einen Artikel bitten, der das Jahr dann rückblickend beschreibt. Das wird bestimmt spannend. Stay tuned…. 🙂 )