„Keine Krise. Erntezeit“ – von einem fremdbestimmten Leben zu einer Reise zu sich selbst

Auszeit Facilitation

Abitur, Studium, Heirat, Haus, Kind, Karriere: Im Alter von knapp 30 Jahren hatte Antje „alles“ erreicht. Alles? Oder eher all das, was in der westlichen Kultur und unserer Gesellschaft als erstrebenswert gilt? Glücklich gemacht hat es Antje jedenfalls nicht. Das zu realisieren, brachte das Kartenhaus ihrer vermeintlich nach außen hin perfekten Welt zum einstürzen. Dass – wie Johann Wolfgang von Goethe es beschrieb – man aber genau aus den Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, etwas Schönes bauen kann, zeigt Antjes Weg, den sie seitdem geht. Im Interview mit Daniela erzählt sie ihre ganz persönliche Geschichte. Die keine Krise, sondern vielmehr der Beginn einer wundervollen Ernte ist.

Daniela: Antje, kannst Du konkret benennen, aus welcher Krise heraus Du gestartet bist!?

Antje: Wohl eine der Top 10 Fragen, die sich Vanlifer „on the road“ gegenseitig stellen. Keine Krise. Erntezeit!

Der Prozess der Veränderung hat schon vor einigen Jahren begonnen. Mit Ende 20 hatte ich so ziemlich alles erreicht, was auf meiner konservativ geprägten Ziele-Liste für das „Erwachsen sein“ stand: abgeschlossenes Studium, verheiratet, Haus, Kind, Karriere und Vieles mehr… Ich lebte in einer Umgebung, in der genau das erstrebenswert und Usus war. Ich rannte den Erwartungen und Normen der Gesellschaft hinterher – glücklich gemacht hat es mich aber nicht.

2018/2019 – ungefähr mit 30 – kam der erste große Bruch. Das Kartenhaus fiel zusammen und ich damit in ein tiefes Loch. So vieles fühlte sich nicht mehr stimmig an. Ich wollte nur noch ausbrechen. Ausbrechen aus meinem goldenen Käfig, den ich mir selbst erbaut hatte. Auf Trennung folgte Scheidung, auf Kündigung Jobwechsel. Sämtliche Beziehungen in meinem Leben gekappt. Nur noch „me, myself & I“. Und das wohl zum ersten Mal. Mich selbst kennenlernen. Ganz neue Seiten entdecken. Mit mir sein können. Ein langer Weg.

„So vieles fühlte sich nicht mehr stimmig an. Ich wollte nur noch ausbrechen. Ausbrechen aus meinem goldenen Käfig, den ich mir selbst erbaut hatte.“

Oft ein Schwieriger: Vollzeitjob. Haus. Alleinerziehend und dann „auch noch“ auf dem Weg zu mir selbst. Auch mein Tag hat(te) nur 24 Stunden. Oft hat mein Wecker bereits morgens um 4:30 geklingelt, um noch vor meinen Mama-Pflichten und der Büro-Zeit in die Stille und körperliche Praxis gehen zu können. Pro Woche habe ich mehrere Bücher verschlungen, so einige online-Seminare und Coachings besucht – immer wieder auf der Suche nach Antworten. Nach Antworten auf Fragen, die ich noch gar nicht kannte.

Es war wie in einem Boot paddelnd auf einem fließenden Gewässer. Es ging immer weiter, immer vorwärts, mal schneller, mal ein weniger seichter. Mir sind so viele Themen, von denen ich vorher in meiner kleinen Blase noch nie gehört hatte, begegnet. Themen, die mir Erkenntnisse brachten, die meine Neugier weckten, die mich zu mir geführt haben, die mir Kraft gaben, durchzuhalten. Ich lernte von Grund auf neu, dankbar zu sein. Dankbar für all die schönen und wertvollen Momente des Alltags, aber auch die herausfordernden. Ich lernte von Grund auf neu, zu vertrauen. Zu vertrauen, in mich, in das, was kommt und darin, dass ich meinen Weg gehen werde. Ich lernte von Grund auf neu, zu lieben. Zu lieben, wer ich bin, was ich tue, wer mir begegnet, was das Leben mir schenkt.

„Ich lernte von Grund auf neu, dankbar zu sein.“

Nach dieser intensiven, auch sehr isolierten Zeit, harmonierten frühere Freundschaften und Bekanntschaften nicht mehr. Die Art und Weise, wie ich meinen Job als Führungskraft in einer Bank ausübte, änderte sich enorm. Von Zahlen, Daten, Fakten und perfekter Organisation und Planung schwenkte ich zu einer Arbeit mit den Mitarbeiter:innen als Menschen und als Team. Dieser neue Fokus motivierte mich, 2021 auch die „Sensing the Essence“ Ausbildung am Institut zu machen. Eine neue Phase in meinem Veränderungsprozess: Gleichgesinnte, mit ähnlichen Themen, Herausforderungen und Mindsets saßen nun mit mir in meinem Boot und paddelten den Fluss weiter. Ich fühlte mich nicht mehr allein oder gar fremd. Neue Begegnungen stärkten mich in meinem Weg und inspirierten mich, weiterzugehen und noch tiefer zu mir vorzudringen.

So zog es mich im Januar 2022 kurzerhand nach Italien in ein so eindrucksvolles und prägendes Neujahrsretreat von Dir*. Eine Woche so bei mir und so klar zu sein, dass es keinen Zweifel mehr gab auch den „letzten“ Schritt des Loslassen zu gehen: das Haus, das schon lange kein zu Hause mehr war, der Job, dessen Sinnhaftigkeit ich schon lange vermisste – all die Pfeiler und Konstanten, die mir in den letzten drei Jahren noch Kraft und Halt gegeben hatten, um meinen Weg gehen zu können – brauchte ich nicht mehr. So ließ ich sie los.

Wow! What’s next?!

Mit einem Schlag riss ich weniger mich, sondern vielmehr mein komplettes Umfeld aus deren Komfortzone und all die Veränderungen der letzten Jahre wurden mit einem „Peng“ im Außen unübersehbar sichtbar.

So einige mir nahestehende und mir tief am Herzen liegende Menschen konnten meinen Entschluss nicht verstehen, haben Dinge gesagt, die mich sehr getroffen haben; oder gar nichts gesagt. Doch einer der schönsten, wenn auch emotionalsten Momente gab mir ganz viel Kraft, um bei mir zu bleiben: Unter Tränen erzählte ich meinen Eltern ziemlich knapp mit wenigen Worten von meinem Entschluss und legte ihnen das Gedicht „Es ist, was es ist“ von Erich Fried auf den Tisch, was meine Eltern zerriss. Die ersten Worte, die mein Vater herausbrachte, waren: „Das Gedicht sagt eigentlich alles.“

„So einige mir nahestehende und mir tief am Herzen liegende Menschen konnten meinen Entschluss nicht verstehen (…).“

Neben vielen sehr emotionalen Stunden und Begegnungen baute ich nun meinen Bulli „Bob“ im Vorgarten neben Video- und Telefonkonferenzen aus dem Homeoffice zu unserem neuen zu Hause auf vier Rädern aus. Das Haus habe ich verkauft und nahezu unser ganzes Hab und Gut verschenkt – am erfolgreichsten das Bermuda Dreieck vor der Tür 😉 – und öffnete mich für einen neuen Lebensabschnitt ohne Plan und ohne Ziel, mit ganz viel Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe. Nur mein 5-jähriger Sohn und ich in unserem Bulli „Bob“.

Jetzt begann die Erntezeit. Es war ein langer Prozess. Es ist ein Prozess. Und es wird immer ein Prozess sein.

Freudestrahlend, nicht suchend, sondern findend, machten wir uns im Juni 2022 auf die Reise. Wir verließen Berlin ohne zu wissen, wo wir die Nacht verbringen werden. Das Abenteuer begann.

Seither sind nun 5 Monate „auf der Straße“ vergangen und auch hier durchlaufen wir immer wieder aufs Neue die Phasen der Veränderung – fast schon lehrbuchhaft. Immer wieder neue Orte, neue Menschen, neue Eindrücke. Wenige Konstanten. Eigentlich nur unsere 6 Quadratmeter, die wir unser zu Hause nennen. Doch die Art, wie wir gerade unser Leben gestalten, lieben wir sehr und stellen uns regelmäßig die Frage „Ist es noch das, was wir wollen? Ist es noch das, was uns aktuell glücklich macht oder brauchen wir etwas anderes?“

Und obwohl wir spontan mitten in Spanien binnen weniger Tage einen neuen Van gekauft und unser zu Hause getauscht haben, sind wir uns einig, dass wir weiter reisen wollen. Ganz intuitiv, dem Gefühl folgend, noch immer ohne wirklichen Plan oder gar Ziel.
Es ist eine Reise nicht nur durch Europa, durch verschiedene Länder und Kulturen, die uns so viel lehrt, was uns bisher verborgen blieb. Nein, es ist auch eine Reise zu uns selbst.

Jeden Tag stehe ich da und bin völlig bewegt und betrachte meinen Sohn. Es ist so überwältigend, so viele Schritte, die er tut, miterleben zu dürfen und gemeinsam zu erfahren. Unsere Beziehung ist so gewachsen und kraftvoll. All das wäre in unserem früheren Lebensmodell so nicht möglich gewesen.

Wir begegnen vielen interessanten Menschen, erfahren deren Geschichten, tauschen uns aus und stellen immer wieder fest: Jeder hat seine Geschichte und oft sind unsere Geschichten gar nicht so unterschiedlich. Doch im Alltag fehlt oft der Raum, diese Geschichten zu erzählen oder gar zu hören. Hier auf der Straße findet genau das statt: Gemeinschaft, Verbundenheit, Füreinander.

„Wir begegnen vielen interessanten Menschen, erfahren deren Geschichten, tauschen uns aus und stellen immer wieder fest:
Jeder hat seine Geschichte und oft sind unsere Geschichten gar nicht so unterschiedlich.“

Und es ist so wundervoll und magisch und nährend. Binnen Sekunden das Gefühl zu haben, als würde man sich schon ewig kennen.
Wir sammeln Inspirationen, Impulse, Kontakte für das Hier und Jetzt aber auch für ein Leben danach. Denn für uns ist klar, so unfassbar toll diese Erfahrung on Tour ist, so ist es für uns kein „für immer“ Lebensmodell sondern ein Lebensabschnitt.

Und eigentlich gibt es nicht viel mehr zu sagen, als es Fia bereits in ihrem Song „Shine“ zum Ausdruck bringt:

I am travelling down the road
Quit my job and left my home
I am being pulled by something greater than me
And I intend to walk untill
My vision’s clear and mind is still
Following that subtle voice within

And though I may not see the path ahead, I am confident
I’m taking one step at a time
I put my heart out on the line
And it will be one hell of a roller coaster ride
But I am ready
I am ready to shine
Ready to shine

*Daniela veranstaltet jährlich zu verschiedenen Jahreszeiten und Themen an Orten wie dem Mandali-Retreatcenter in Lago Orta/Norditalien mehrtägige Retreats – hier geht es zu ihren aktuellen Terminen.

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